Ein halbes Jahr ohne Line

Von: Michelle Bayona
Mein Zeitgefühl ist trügerisch geworden. Sechs Monate ist es nun her, dass Line gestorben ist. Mitten aus dem Leben gerissen. Es fühlt sich an wie gestern. Und doch, verglichen mit Lines kurzer Lebensdauer, sind sechs Monate eine lange Zeit.
Was wäre, wenn?
Was hätte in diesen sechs Monaten alles passieren können?! Ich kann nur mutmaßen, wie es wäre, in dieser Parallelwelt, in der mein Kind noch leben würde…
Sicher würde sie mit ihrem Gehwagen fröhlich durch die Gegend flitzen. Ihrer kleinen Schwester zeigen, wie man krabbelt. Es wäre ein schöner Sommer geworden. Wir hätten einen 2er-Buggy und einen 2er-Fahrradanhänger besorgt und wären damit unterwegs gewesen. Am Meer, im Park, auf Spielplätzen. Line wäre bereits vor Monaten in der neuen Kita gestartet. Kein Zweifel, dass es ihr da gefallen hätte. Sie mochte immer Kinder und Trubel um sich herum. Darin gleicht ihr ihre kleine Schwester, auch in ihrem fröhlichen Wesen. Wenn Alva bei Musik zu strahlen beginnt, erinnert das so sehr an Line. Dass die beiden nur sieben Wochen miteinander hatten und kein ganzes, langes Leben, ist schwer zu ertragen. Line hätte ihr Repertoire an Gebärden und Wörtern sicherlich erweitert. Und sie würde uns mit ihrer guten Laune und Leichtigkeit anstecken, Tag für Tag.
Es ist wirklich passiert!
Line ist gestorben, schon vor einem halben Jahr. Wenige Wochen vor ihrem 3. Geburtstag. Mein Kind ist tot. Das fühlt sich immer noch an wie ein falscher Film. Das kann nicht sein. Ich wache jeden Morgen auf und muss mir selbst erneut sagen: Das war kein böser Traum, das ist wirklich passiert.
Sie fehlt so sehr.
Menschen und Trauer
Ohne Line ist die Welt ein Stück kälter geworden. Schnell hat sich gezeigt, wer diese unwirkliche, brutale Trauer um ein totes Kind aushält, wer bereit ist, sich damit zu belasten, seine eigene Unsicherheit beim Thema Tod zu überwinden. Als ich dachte, nach Lines Tod könnte das Leben nicht noch schlimmer werden, hatte ich mich getäuscht. Das Spektrum an Reaktionen war breit und genau so, wie es in eingängiger Trauerliteratur beschrieben ist: Wenige, aber verletzende, teils ableistische Sprüche, die ich hier nicht wiederholen möchte. So viele gutgemeinte Ratschläge, die wohl nur über die Lippen kommen können, wenn man selbst kein Kind verloren hat. Versuche, einen Sinn herzustellen, wo es keinen gibt. Menschen, die auf die Nachricht zu Lines Tod nicht einmal reagiert haben. Andere, die sich nach kurzer Zeit ganz zurückgezogen haben oder bei denen halt immer “gerade viel los” ist.
Aber hier steht die Zeit still, Lines Tod ist jederzeit präsent. Da draußen nicht. Da geht das Leben weiter.
Trauer isoliert, nicht nur die Trauernden von den anderen, sondern auch die Menschen, die sie miteinander teilen. So ähnlich steht es in einem Text, den ich von einer Trauerbegleiterin diese Woche erhalten habe. Das trifft wohl zu. Ich bin so dankbar für die wenigen, für mich umso wertvolleren Menschen, die bis heute präsent sind. Die unbeirrt nachhaken, die ihre eigenen Themen zurückstellen und die zuhören, auch wenn es sich wiederholt, die praktisch helfen, die erkennen, dass dies das Schlimmste ist, was passieren kann, und entsprechend Verständnis haben.
Kein Einzelfall
Wir wissen mittlerweile, dass sie nicht hätte sterben müssen. Line hatte eine Chance. Und es ist kein Einzelfall. Ich lerne immer mehr Menschen kennen, denen Ähnliches widerfahren ist. Wo bleibt die Empörung? So etwas darf keinem anderen Kind mehr passieren! Dieses sich Abfinden mit Missständen ist nichts, was ich jemals gut ertragen konnte. Line hat sich so ins Leben gekämpft. Meine lachende, fröhliche, Funken sprühende große Tochter. Line hätte es verdient, zu leben.
Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und Line retten. Um ein halbes Jahr und ein, zwei Tage. Dafür sorgen, dass die Menschen, die ihr Schicksal in der Hand hielten, sich an jeder Weggabelung für die richtige entscheiden. Aber das geht nicht. Ich kann nur hoffen, dass Lines schönes Wesen den Menschen in Erinnerung bleibt. Dass sie nicht vergessen wird.
Niemand hat so laut gelacht…
Es gibt ein Lied von Enno Bunger, in dem einige Zeilen gut passen, gerade jetzt im Herbst. Das ist die Line, an die ich mich erinnere:
Du hast beflügelt, hast begeistert,
du hast Menschen eingefangen,
Du hast auf wackeligen Beinen
noch gesungen und getanzt.
–
Warst schon zur Dämmerung am Zwitschern,
mit dir ging die Sonne auf
Du warst und bist und bleibst für immer
unserer Zeit voraus.
–
Warst nicht zu bremsen, nicht zu fassen,
hast alles auf den Kopf gestellt.
Die Welt war für dich ein Wunder
und du ein Wunder für die Welt.
–
Kannst du das hören,
wie die Wunder dich beschreiben?
Niemand hat so laut gelacht,
niemand wird je lauter schweigen.
–
Deine Stille füllt den Raum,
doch dein Platz bleibt immer frei.
–
Kannst du das sehen,
wie wir uns vor dir verneigen?
Die Bäume streuen Konfetti
und klatschen mit den Zweigen.
–
Du musstest früher gehen,
aber was berührt, das bleibt.
–
[Konfetti, Enno Bunger] → Song auf youtube
