Unser Stehauf-Mädchen

Von: Michelle Bayona
Gerade im letzten Jahr vor Lines Tod habe ich häufig gedacht: Hätten wir das bloß eher gewusst. Dass das Leben anders wird mit Line, und trotzdem so schön und voller Leichtigkeit. Ich freute mich darauf, zu sehen, welchen Weg mein Kind einschlagen würde. Eine erwachsene Line, daran konnte ich mit Zuversicht denken. Einzig die eventuell irgendwann anstehende Lebertransplantation machte uns Angst.
Anfangs war es schwierig
Line kam mit schlechten Startbedingungen auf die Welt. Sie hatte – wir alle hatten – ein sehr hartes erstes Jahr. Was vielen anderen Kindern geradezu mühelos zu gelingen schien, musste sich Line hart erarbeiten – aber sie hatte den Willen und ein bewundernswertes Durchhaltevermögen. Lines Perspektiven waren anfangs völlig unklar. Würde sie sprechen lernen, sitzen, krabbeln, laufen? Ihr Gendefekt war so selten und die Symptome bei den Betroffenen so unterschiedlich ausgeprägt, dass kaum eine Prognose zu wagen war.
Aber Line kam auf die Beine. Wortwörtlich.
Unser Alltag bekam nach und nach mehr Leichtigkeit, wir lachten viel mit ihr und waren so stolz auf sie. Gleichzeitig ging es schon lange nicht mehr darum, “Normalität” zu erreichen – der Begriff ist mir mittlerweile ein Dorn im Auge. Was ist schon normal? Line sollte ein glückliches Leben führen, ohne den Druck, bestimmte Ziele zu erreichen, ohne übertherapiert zu werden.

Und sie startete durch, aus eigenem Willen
Mal ging es motorisch vorwärts, plötzlich machte ihr Sprachverständnis einen Schub. Line wurde immer zufriedener und offener gegenüber anderen Menschen. Wer sie kannte, weiß, wie viel Angst sie anfangs vor Menschen hatte, wie schnell sie überfordert mit Reizen war. Das alles legte sich zunehmend, zuletzt freute sie sich so über jeden Besuch, kam mit zur Tür gekrabbelt, winkte und rief laut “Hi!!!!”.
Sie ertrug die regelmäßigen ärztlichen Untersuchungen, die Zugänge, die ihr dafür gelegt wurden, die Vollnarkosen für die Endoskopie. Es war hart für sie und auch wir litten mit. Aber sie lernte, unangenehme Erfahrungen schnell wieder abzuschütteln.
Dafür mochte sie ihre Physiostunden und ihre beiden Therapeutinnen sehr, ebenso ihre Frühförderin. Sie liebte ihre Tagesmutter und schaute sich bei der kleinen Kindergruppe jede Menge ab.
Wie oft überraschte sie mich, weil sie plötzlich Dinge erlernt hatte: Bei einer der U-Untersuchungen beim Kinderarzt sollte sie einen Turm aus Bauklötzen bauen, ich war der Meinung, das kann sie doch noch gar nicht?! Doch, konnte sie.

Line war glücklich
Ihre Selbstwirksamkeit nahm mit jeder Woche zu. Themen wie Sprachentwicklung und Motorik waren längst keine unüberwindbaren Hürden mehr. Line ging ihren eigenen Weg und nahm uns mit.
- Sie liebte es, sich krabbelnd und kletternd zu bewegen und genoss ihre wachsende Bewegungsfreiheit. Bereits Monate vor ihrem Tod konnte sie sich endlich in den Stand ziehen – eine völlig neue Perspektive für sie und neue Spielmöglichkeiten.
- Zuhause räumte sie Fächer und Schubladen aus und um, drückte uns Bücher in die Hand, die ihr wir vorlesen sollten, und stellte sich selbst ihre Musik an der Toniebox an und aus.
- Wenn sie malen wollte, zeigte sie auf den Schrank mit ihren Malsachen. Sie kritzelte – manchmal in jeder Hand einen Buntstift – zahllose Blätter voll. Wenn ich ihr etwas vormalen sollte, drückte sie mir sehr bestimmt einen Stift in die Hand.
- Wenn sie Hunger hatte, deutete sie Richtung Küche. Sie brachte uns ihre kleinen blauen Schuhe, die wir ihr immer anzogen, damit sie in ihrem kleinen Lernturm in der Küche stabiler stehen konnte. Von dort aus schaute sie beim Kochen zu oder spielte mit Trinkbechern am Wasserhahn und setzte die halbe Küche unter Wasser.
- Auf dem Spielplatz kletterte sie jeden noch so steilen Hang neben der Rutsche hoch, egal, wie lange es dauerte, um dann mit ganz wenig Hilfestellung selbst herunterzurutschen.
- Dazu kam ein plötzlich schnell wachsender Schatz an Gebärden und Wörtern, der ihr half, ihre Bedürfnisse zu äußern. Ihre Zufriedenheit wuchs, je mehr sie sich mitteilen konnte.

Wir hatten noch so viel vor
- Line sollte im August in ihrer neuen Integrations-Kita starten – wir waren vorher mehrfach mit ihr dagewesen. Sie fühlte sich dort sichtlich wohl, erkundete alle Ecken und stürzte sich auf das Spielzeug.
- Line wurde 7 Wochen vor ihrem Tod eine große Schwester – sie ging so liebevoll mit Alva um. Die beiden Mädchen hätten sich im Alter gegenseitig gehabt, wenn Stephan und ich nicht mehr da gewesen wären.
- In unserem Terminkalender stand die Einladung zum 3. Geburtstag eines Spielfreundes, den sie nicht mehr erleben durfte.
- Am Freitag vor ihrem Tod hatte ich ihr neue Schwimmflügel für die Freibadsaison gekauft.
- An diesem Abend hatten wir noch ein Lernentwicklungsgespräch mit ihrer Tagesmutter, die uns ausschließlich Positives erzählte. Wir waren so stolz auf Line.
- Und am Vortag ihres Todes hätten wir eigentlich einen Termin im SPZ mit einer Rehafirma gehabt, um einen Gehtrainer zu bestellen, nachdem sie zuvor an einem Testgerät ihre ersten Schritte gemacht hatte…

Lines 3. Geburtstag nähert sich
Line liebte das Leben. Ihr Tod war ein Schock für uns; niemand hatte damit gerechnet. Am 15. Juli 2024 wäre sie drei Jahre alt geworden. Es wäre der erste Geburtstag gewesen, zu dem wir auch ihre Freundinnen und Freunde eingeladen hätten, ein richtiger Kindergeburtstag. Ich hätte ihr gerne eine Matschküche für draußen geschenkt. Nachdem sie mittlerweile so sicher im Stehen war und gerne mit Wasser spielte, hätte sie einen riesigen Spaß daran gehabt.
Unser Stehauf-Mädchen. Wir vermissen sie so.
